Frühe Intervention ist gerade bei psychischen Notfällen essentiell. Pro-Mente-Sana-Geschäftsleiter Roger Staub erklärt, wie ein Kurs dabei Unterstützung bietet.
Auszug aus «m&k»
Auszug aus «m&k»
Interview von Sarah Willi
ROGER STAUB Die WHO schätzt, dass die Belastung der psychischen Gesundheit in etwa zehn Jahren an erster Stelle der grossen Krankheiten stehen wird. Und obwohl das Thema bereits davor immer wichtiger wurde, hat die Corona-Krise die allgemeine psychische Belastung nochmals verstärkt. Jetzt wird offensichtlich, dass es so nicht weitergehen kann.
Depressionen, Belastungsstörungen sowie auch Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Krankheiten. Dann gibt es noch schwere psychische Erkrankungen wie Psychosen und – leider ein sehr häufiges Thema – Abhängigkeiten von Suchtmitteln, also Alkohol und Drogen, aber auch Verhaltenssüchte wie Spielsucht, Sexsucht und ähnliche.
In der Schweiz kennen rund neun von zehn Personen jemanden aus ihrem Umfeld, dem es psychisch nicht gut geht. Gleichzeitig wissen sie aber nicht, wie sie helfen sollen. Andererseits probieren die Betroffenen lange, ihre psychischen Probleme zu verbergen. Sie holen sich erst viel zu spät Hilfe und leiden und schweigen, bis es nicht mehr geht. Denn sie haben Angst vor Diskriminierung, Benachteiligung, Mobbing und Jobverlust.
An einer in der Schweizer Gesellschaft stark verankerten Tabuisierung. Psychisch belastete Personen werden als «Spinner», schwach oder nicht leistungsfähig bezeichnet. Psychische Belastungen haben zudem die Tendenz, nicht von selbst besser zu werden – im Gegenteil. Somit kommt es, dass Betroffene sich erst dann helfen lassen, wenn die Symptome untragbar sind. Und dann kann es teuer und langwierig werden. Es ist daher wichtig, dass früh Erste Hilfe geleistet wird. So kann beispielsweise der Verlauf von einer leichten, gut behandelbaren Depression zu einer schwereren Form verhindert werden.
Nur schon ein Ernstnehmen, Zuhören, Verständnis und Anteilnahme zeigen kann entlasten. Wenn man Betroffene fragt, was ihnen geholfen hätte, sagen nämlich viele: «Ich hätte früh jemanden zum Reden gebraucht, dann wäre es vielleicht anders gekommen.»
Unser Hilfesystem – Therapeuten, Spitäler, psychiatrische Kliniken – ist darauf ausgelegt, dass die Betroffenen zu ihnen kommen. Die Betroffenen werden aber meist nicht selbst aktiv. Mit dem Konzept der Ersten Hilfe tritt ein neuer Akteur in das nicht bestehende Verhältnis zwischen Hilfesystem und Betroffene. Der Akteur ist in der Nähe und sieht, dass es einer Person nicht gut geht, wird aktiv und bietet Erste Hilfe an. Er bringt also eine Veränderung in diese «verfahrene» Situation, die dazu geführt hat, dass es heute so ist, wie es ist.
«Ensa» lehrt Laien also, wie sie diese Akteurrolle wahrnehmen können. Im Kurs wird zum einen das Grundwissen zu psychischer Gesundheit und Krankheit hergestellt und vermittelt. Da es in der Gesellschaft vermieden wird, über psychische Themen zu sprechen, gibt es auch kein entsprechendes Vokabular, und die meisten Personen haben sehr wenig Wissen über psychische Erkrankungen und den Umgang damit. Der andere, genauso wichtige Teil ist das ErsteHilfe-Lehren. Die Schritte dafür sind am «traditionellen» Nothelferkurs für physische Unfälle angelehnt, wo man ja auch nicht nur theoretisch überm Beatmung oder Lagerung spricht, sondern viel übt. So wird es auch im Ensa-Kurs gemacht: Neben der Wissensaneignung wird mittels Rollenspiele und Übungen gelernt, wie die fünf Schritte der Ersten Hilfe – wir kürzen sie mit dem Akronym ROGER ab – angewendet werden.
Ja. Wir schicken Instruktoren in Firmen, die einen Kurs machen möchten, live oder zurzeit als Webinar. In diesen Firmenkursen können die Praxisbeispiele auf den Firmenkontext angepasst werden. Ausserdem haben wir auch Abkommen mit grossen Firmen, wie zum Beispiel Swisscom oder Novartis. Diese Firmen haben eigene Instruktoren ausbilden lassen, die selbst interne Kurse durchführen können.
Die Antwort ist relativ simpel: Weil man damit einen Haufen Geld sparen kann. Grosse Firmen mit eigenem Gesundheitsmanagement wissen, was beispielsweise ein Burnout im mittleren Kader kostet – teils mehrere Hunderttausend Franken pro Fall. Für dieses Geld könnte man viele Mitarbeitende in einen Kurs schicken und den Schaden somit bestenfalls vermeiden. Der Return on Investment für einen solchen Ensa-Kurs liegt bei etwa 20:1. Präventive Interventionen im Arbeitsumfeld lohnen sich also wirklich. Aber es erfordert halt zuerst ein Investment, weshalb noch zu oft gezögert wird. Das Bewusstsein steigt jedoch in den Unternehmen.
Es kommt darauf an. Wir raten den Firmen, dass 20 Prozent des Personals einen Erste-Hilfe-Kurs machen soll. Dann besteht die Gewähr, dass ungefähr in jedem Team jemand ist, der merken würde, wenn es einer Person nicht gut geht. Es ist keine Arbeitgeberoder HR-Geschichte, sondern zuerst ein privates Engagement, in dem das Teammitglied für seine Arbeitskollegen/-innen schaut. Erst in einem allfälligen weiteren Schritt – wenn es professionelle Hilfe braucht oder Entlastungen – kommt die Firma mit dem HR oder dem Vorgesetzten dazu. Letztlich braucht es beides, und wie auch das Bekenntnis der Firma, dass sie für ihre Mitarbeitenden Sorge trägt, und diejenigen, die Belastungen haben, nicht einfach rauswirft. Eigentlich wäre es relativ einfach, damit umzugehen – man muss einfach mal die Basics lernen.
Wir sind jetzt auf dem Weg zu den ersten 2000. Ich hätte lieber bereits 10000, aber – eben – Corona hat uns massiv gebremst. Ich vertraue aber darauf, dass die ersten 1000 die Schwierigsten waren. Und da wir die meisten Kursteilnehmenden durch Mund-zu-Mund-Propaganda erhalten, bin ich zuversichtlich. Es beginnt sich vor allem in HR-Kreisen von grossen Firmen, die ein eigenes betriebliches Gesundheitsmanagement haben, herumzusprechen. Zudem möchten viele Absolventen auch Instruktor werden, um den Kurs in ihre Firma zu bringen, was ich ermutigend finde. Das ist ein Zeichen, dass der Kurs funktioniert und den Menschen einleuchtet.